Aktualisiert: 24. Januar 2023
Nach den Blog-Beiträgen zu den drei Übungsbereichen des Yoga (asana, pranayama, Meditation) und zu den Grundlagentexten (Upanishaden, Bhagavadgita, Yogasutra, Hatha-Yoga-Pradipika), geht es in diesem Beitrag um die philosophische Grundlage von Yoga und Ayurveda: Die Samkhya-Philosophie.
Dimensionen der Welt
Die Möglichkeit, sich das Universum konkret vorzustellen, liegt außerhalb der menschlichen Fähigkeiten. Es liegt in der Natur der Dinge, dass es nicht möglich ist, sich als Teil eines Systems eben dieses System vollständig zu erschließen. Teil eines Systems zu sein, schließt die Möglichkeit der objektiven Außenwahrnehmung aus, d. h. es ist unmöglich gleichzeitig Teil eines Systems zu sein und dieses System in seiner Vollständigkeit zu erfassen. Wir können zum Beispiel nicht Passagier eines fahrenden Zuges sein und gleichzeitig außenstehend denselben Zug vorbeifahrend betrachten und in all seine Einzelteile zerlegt begreifen. Dennoch ist es vermutlich ein Urwunsch des Menschen, die Welt, in der er sich vorfindet, zu erschließen und zu verstehen. Und sei es nur, um einordnen zu können, wie es um ihn, den Menschen als Teil dieser Welt bestellt ist. Die Vorstellung von Raum und Zeit spielen bei diesem Unterfangen eine besondere Rolle, da es sich hierbei um menschengemachte Konzepte handelt. Einer der ältesten überlieferten Versuche, die Welt gedanklich zu begreifen und zu ordnen, findet sich in der Samkhya-Philosophie (kurz: Samkhya).
Theorie und Anwendung der Samkhya-Philosophie
Samkhya ist eines der sechs philosophischen Systeme (darsans) Indiens und die theoretische Grundlage der beiden praktischen Systeme Yoga und Ayurveda. Yoga befasst sich mit der Natur unseres Geistes (Gemüts) und Ayurveda mit der Natur unserer Gesundheit. Beide Systeme verfolgen dabei sowohl präventive als auch schulende bzw. heilende Aspekte. In seinen Grundzügen ist Samkhya eine atheistische, dualistische Philosophie (dvaita-Lehre). Kennzeichnend ist das Gegenüberstehen der zwei Grundprinzipien purusa und prakrti. Purusa, das Prinzip des Beobachters oder Bewohners, auch als der Sehende (oder das lahme Wesen) dargestellt, verkörpert das Unwandelbare (aparinama). Prakrti, das Prinzip der Urmaterie, auch als das Gesehene (oder das blinde Wesen) dargestellt, verkörpert das Wandelbare (parinama).
Grundbedingungen des Seins
Es handelt sich bei prakrti und purusa also um zwei gegensätzliche Prinzipien, die in ihrer Urform jedes für sich eine Einheit darstellen. Durch die Annäherung von prakrti an purusa weckt purusa (nur durch seine Anwesenheit) die in prakrti angelegten Potentiale, prakrti entfaltet sich, Entwicklung findet statt. Alles was in der Folge hieraus entsteht setzt sich aus drei Grundeigenschaften – den gunas – zusammen: Diese sind sattva (licht, rein), rajas (bewegt, hitzig) und tamas (träge, dunkel). In allen Erscheinungen sind immer alle drei Eigenschaften enthalten. So hat zum Beispiel Licht einen hohen Anteil an sattva, einen deutlichen Anteil an rajas und minimal tamas. Ein tanzender Mensch repräsentiert viel rajas, je nach Tanzstil mehr oder weniger sattva und wenig tamas. Ein Stein wiederrum setzt sich zusammen aus viel tamas, der jeweiligen Gesteinsart entsprechend sattva und wenig rajas. Nach der vorherrschenden Eigenschaft stellt sich so der momentane Charakter der jeweiligen Erscheinung als im Gleichgewicht befindlich dar. Prakrti befindet sich jedoch ständig in einem Prozess der Bewegung, des Wandels, der Veränderung, denn jedes Gleichgewicht ist nur vorübergehend oder anders formuliert: Das Bestreben, das Gleichgewicht zu halten bedeutet ständigen Ausgleich bzw. es wiederherzustellen ist Arbeit.
Die 25 Elemente des Samkhya
Samkhya bedeutet wörtlich Zahl und so werden 25 Prinzipien (Überschriften) aufgezählt (aus einer Innenschau des Menschen). Diese bilden die Welt in ihrer Gesamtheit ab. Sie stellen die Welt (prakrti) als System einer kontinuierlichen Interaktion von Makrokosmos (Universum, Welt) und Mikrokosmos (Natur, Lebewesen) vom Feinen (2) zum Groben (24) dar:
- das Unwandelbare (purusa) (25)
- das Wandelbare (prakrti) (1)
- unterscheidende Erkenntnis (2)
- Identität (3)
- Wahrnehmungsfähigkeit (4)
- Klang (5)
- Kontakt (6)
- Form (7)
- Geschmack (8)
- Geruch (9)
- Hören / Ohr(en) (10)
- Spüren / Haut (11)
- Sehen / Auge(n) (12)
- Schmecken / Zunge (13)
- Riechen / Nase (14)
- Sprechen / Stimme (15)
- Formen / Hand (16)
- Fortbewegen / Bein (17)
- Ausscheiden / Anus (18)
- Fortpflanzen / Geschlechtsorgan (19)
- Äther (20)
- Wind (21)
- Feuer (22)
- Wasser (23)
- Erde (24)
Die Wahrnehmungsfähigkeit (4) und die 10 Wahrnehmungs- und Handlungsfunktionen (10 – 14 und 15 – 19) bilden zusammen die 11 Organe der Wahrnehmung. Durch die Identität (3) erhalten sie ihre Einheit – es entsteht das Gefühl: Ich bin eine Einheit. Die unterscheidende Erkenntnis (2) ist die feinste Instanz im Menschen und diese gilt es kontinuierlich zu schulen. Die „äußere“ Welt setzt sich zusammen aus den feinstofflichen Elementen (5 – 9) und den grobstofflichen Elementen (20 – 24). Als Mensch bestehen wir zugleich aus den Elementen dieser Welt und sind als Teil der Natur in dieser Welt zuhause.
Vom Erkennen der Möglichkeiten
Wir sind also ein Teil eines größeren Ganzen und befinden uns als Repräsentanten des Mikrokosmos in ständiger Interaktion mit dem Makrokosmos. Das große Ganze kann ohne den einen oder anderen Teil seines Selbst bestehen. Als Mensch sind wir jedoch abhängig von der Welt und nicht umgekehrt. Die Welt kann uns nicht retten und wir können die Welt nicht retten. Wir können aber für Lebensbedingungen sorgen, die sowohl für jeden Einzelnen von uns als auch für die Gemeinschaft lebenswerte Lebensbedingungen sicherstellen und erhalten. Dadurch, dass die Welt und wir als Menschen aus den gleichen Elementen bestehen, können wir, indem wir uns erforschen, die Welt als Ganzes immer besser verstehen. So können wir sowohl zu einem bewussteren Umgang mit uns in der Welt gelangen als auch zu einem einfühlsamerem Umgang mit der Welt (Natur) an sich.
Rückbesinnung auf das Wesentliche
Wurden in der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Erde dem Menschen die Lebensbedingungen stets von außen vorgegeben, ist der Mensch inzwischen an einem Punkt angekommen, an dem er seine Lebensbedingungen selbst mehr beeinflusst, als es alle äußeren Faktoren zusammengenommen für ihn tun. Dementsprechend wird das Zeitalter, in dem wir momentan leben, auch als Anthropozän bezeichnet: Das Zeitalter des Menschen. Die Samkhya-Philosophie hat vor ca. 2000 Jahren die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur untersucht und in Zusammenhang gestellt. So gesehen ist Samkhya also durchaus ein starkes, zeitloses philosophisches Leitbild für eine Rückbesinnung des Menschen auf das Wesentliche: Auf sich und seine Verantwortung gegenüber der Natur als seine Lebensgrundlage, und dementsprechende Handlungsweisen.
Der nächste Blog-Beitrag führt uns in die Gegenwart und beleuchtet die aktuellen Entwicklungen im Yoga.
Jürgen Slisch, Gelnhausen, 23.01.2023.