Achtung, zu Beginn möchte ich darauf hinweisen, dass der folgende Blog-Artikel nichts für stark harmoniefokussierte Menschen ist. In den folgenden Zeilen wird ein sehr kritischer Blick auf die aktuellen Trends und Entwicklungen in der Yoga-Welt geworfen.
Yoga in aller Munde?
Für alle, die sich entschieden haben, weiterzulesen, stellt sich nun vielleicht die Frage, was es mit dem Titel auf sich hat. Yoga ist doch in aller Munde, warum wird von einer bedrohten Art gesprochen? Neben Yogakursen gibt es Yogareisen, Yogaliteratur und ein riesiges Angebot von Yogamatten, Yoga-Props (Hilfsmittel, die beim Yogaüben unterstützen) und Bekleidung. Milliarden werden im Yogasektor umgesetzt.
Laut einer Studie des BDYoga [1] praktizierten im Jahr 2018 etwa 5% der Menschen in Deutschland Yoga, 2014 waren es noch 3%. Aktuelle Zahlen zur Entwicklung nach der Pandemie und in einer Zeit steigender Preise gibt es bislang nicht. Schon vor der Pandemie praktizierte laut dieser Studie mehr als die Hälfte (54%) Yoga zu Hause. Im Zuge der Pandemie dürfte der Anteil deutlich gestiegen sein.
Yoga: online versus offline
Es kommt also zu einer deutlichen Verlagerung von Yogaunterricht in Präsenz hin zum Online-Yogaunterricht. Bei den Online-Angeboten gilt es zwischen Live-Sessions und Yoga-Videos zu unterscheiden. Live-Sessions sind gerade in Zeiten von Kontaktbeschränkungen sicherlich eine gute Alternative. Außerdem kann man an Kursen oder Seminaren teilnehmen, die an weit entfernten Orten stattfinden. Das schont die Umwelt.
Online-Videos als Vorlage für die eigene Yogapraxis sind jedoch sehr kritisch zu betrachten. Üben ohne jedes Korrektiv von außen kann im schlimmsten Fall zu Verletzungen führen. In jedem Fall aber führt es dazu, dass das eigentliche Potential von Yoga nicht ausgeschöpft wird. Damit Yoga seine positiven Effekte auf unser gesamtes System – Körper, Atem und Geist – entfalten kann, ist angepasstes Üben erforderlich. Dafür ist die Unterstützung durch eine Lehrperson unerlässlich. Außerdem bedeutet Yoga auch, bewusst Gegenbewegungen zum Alltag zu erzeugen. Wenn man den ganzen Tag dank Homeoffice schon in den eigenen vier Wänden und vor dem PC verbracht hat, ist Yoga online hierzu also denkbar ungeeignet. Und das reale Miteinander kann durch kein Online-Setting ersetzt werden, egal wie gut Zoom, Teams und Co. sind.
Zwischen akademischen Titeln und Yoga Pants
Neben dem Trend zu Online-Yoga zeichnet sich ein weiterer ab, der gegenläufig zu Yoga als Erfahrungswissenschaft ist. Es ist eine zunehmende Tendenz hin zur Akademisierung und Theoretisierung von Yoga zu beobachten. Bücher und Zeitschriften-Artikel zum Thema Yoga kommen kaum noch aus ohne eine Autorenschaft, die Abschlüsse in Medizin, Psychologie, Indologie oder Philosophie hat. Auch in der Yogalehrausbildung nehmen die theoretischen Grundlagen immer mehr Raum ein. Neuerdings werden auch Studiengänge zu Yoga angeboten. Natürlich hat dies alles seine Berechtigung und gerade bei Bestrebungen, wie z. B. Yogatherapie als eine komplementäre Therapieform zu etablieren, ist dies auch unbedingt nötig. Doch gleichzeitig droht dadurch die Bedeutung der eigenen Erfahrungen weiter in den Hintergrund zu geraten.
Yoga ist eine Erfahrungswissenschaft. Theoretisches Wissen alleine kann Yoga nicht vollumfänglich abbilden. Es geht nicht um faktenbasiertes Wissen, sondern um eine tiefe Schau, ein tiefes Verständnis und Erfahren der Inhalte. Ich kann beschreiben oder darüber dozieren, dass sich mit dem Ausatem der Muskeltonus senkt. Zu erfahren, wie es mir leichter fällt, die Haltung pascimatanasana einzunehmen, wenn ich den Ausatem beginnen lasse, bevor ich mit der Bewegung beginne, ist etwas Anderes, individuell sehr Verschiedenes, und geht weit über die Theorie hinaus. Oder zu spüren, wie alleine die Aufmerksamkeitslenkung hin auf einen bestimmten Körperbereich die Qualität eines asanas beeinflusst.
Neben diesem Trend zur Akademisierung findet gleichzeitig eine weiterhin zunehmende Verflachung der Wahrnehmung von Yoga in der Öffentlichkeit statt. Die Reduktion dieser jahrtausendealten Weisheitslehre auf asanas wird Yoga in keinster Weise gerecht. Die Medien – sowohl die klassischen als auch Social Media – transportieren ein Yogabild, in dem man asanas nur in engen Yoga Pants und mit Konfektionsgröße 34 üben kann; ein Yogabild, das suggeriert, Meditation sei nur inmitten der Natur und an einem Instagram-würdigen Bergsee oder Strand möglich. Eigentlich jedoch holt Yoga den Menschen genau dort ab, wo er momentan steht, nämlich als „einmaliges“ Individuum und es gibt so viele asanas, wie es Menschen gibt – will heißen, jede und jeder, die/der möchte, kann Yoga üben.
Veränderung ist natürlich, aber …
Der Wandel, im Yogasutra als parinama bezeichnet, ist natürlich und in der Yogaphilosophie ein bedeutendes Thema. Es ist logisch, dass Yoga heute nicht mehr dort und so sein kann, wo und wie er vor mehreren Tausend Jahren auf dem indischen Subkontinent begonnen hat. Wandel ist ein Naturgesetzt: Die Natur ändert sich entsprechend den Jahreszeiten. Ein Laubbaum wirft im Herbst die Blätter ab und das Grün kehrt im Frühjahr zurück. Trotzdem bleibt der Baum ein Baum. Die Essenz bleibt, trotz Wandel.
Doch wo ist die Essenz von Yoga, wenn diese umfängliche Weisheitslehre auf das Üben von asanas, eine zunehmende Intellektualisierung dieser Erfahrungswissenschaft und auf eine reine Selbstoptimierung in rasantem Tempo reduziert wird?
… wo bleibt der Aufschrei?
Angesichts der hier geschilderten Vorgänge in der „Yoga-Welt“, geprägt durch die Zunahme von Online-Yoga, Akademisierung und Intellektualisierung, das Gleichsetzen von Yoga mit asanas und Selbstoptimierung im Schnelldurchlauf, frage ich mich, warum dies so selten thematisiert wird? Gerade auch, weil zahlreiche Yogastudios und Yogaschulen aufgrund der Pandemiefolgen schließen mussten oder kurz davor stehen. Die Kunst- und Kulturszene macht auf diese Problematik in ihrem Sektor aufmerksam. Warum nicht auch die Yogaszene? Bei Recherchen für diesen Beitrag bin ich nur auf wenige Artikel zu dem Thema gestoßen.
Es geht nicht darum, dass alle Vollzeit-Yogis und Yoginis werden sollen. Doch als Lehrende und somit auch als Botschafter des Yoga, ist es wichtig, dass wir uns des vollen Potentials von Yoga bewusst sind. Nur dann können wir es stimmig und ausgerichtet auf das Individuum vor uns weitergeben. Im Yoga wird die ideale Position eines asanas als siksana krama bezeichnet. Diese idealisierte Position dient als Leitbild, welches nur von sehr wenigen Menschen annähernd erreicht werden kann. Die von Patanjali beschriebene dynamische Stille unseres Geist-Gemüt-Komplexes ist das Pendant auf geistiger Ebene. Diese Ideale sind in der Welt, nicht um diese erreichen zu müssen, sondern eben als Leitbild. In der Realität ist die Abweichung von solchen Leitbildern immer da und ganz natürlich. Diese Leitbilder dienen als Orientierung, um an einen Punkt zu gelangen, den man vorher nicht erreichen konnte. Auch das ist Yoga – und kann nur gelingen, wenn es weiterhin Menschen gibt, die sich ein- und tiefgehend mit Yoga beschäftigen.
Das kann gelingen, wenn Yoga weiterhin lebendig gehalten wird – und dazu braucht es Yogastudios und Schulen, die Yoga von Mensch zu Mensch weitergeben, ohne zwischengeschaltete Technik, und umfassend, also deutlich über die rein körperlichen Aspekte hinaus.
Im nächsten Blog-Artikel geht es um das Verständnis des Lebens und der Anatomie aus ayurvedischer Sicht. Und schon mal als Vorschau: Der übernächste Blog-Beitrag schließt wiederrum thematisch an den heutigen Beitrag „Yoga – über eine bedrohte Art“ an. Es geht dann um Yogalehrausbildungen und die zunehmende Tendenz zu immer kürzer werdenden Ausbildungen, die sich hier abzeichnet.
Quellen:
[1] BDYoga: Repräsentative BDY-Studie zu Yoga in Deutschland; abgerufen am 26.02.2023
Melanie Klingler, Gelnhausen, 27.02.2023.